Kommentar

Die Wehrpflicht ist längst eine Farce. Es braucht einen Bürgerdienst für alle – Corona und Hochwasser liefern beste Beispiele

Warum sollen – sofern sie sich nicht zuvor davor drücken – nur Männer einrücken müssen? Das Milizsystem gehört zu unserer DNA. Aber es bedarf einer Generalüberholung, die auch die Frauen einbezieht.

Antonio Fumagalli, Lausanne 37 Kommentare
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Die Schweizer Armee ist noch immer ein fast reiner Männerklub – das soll sich ändern.

Die Schweizer Armee ist noch immer ein fast reiner Männerklub – das soll sich ändern.

Steffen Schmidt / Keystone

Früher war es einfach. Der Mann rückte in die Armee ein, die Frau blieb zu Hause und schaute zu Haushalt und Kindern. Am Wochenende kochte sie einen Braten und bügelte die Ausgangsuniform, damit der Gatte «eine Gattung machte».

Zum Glück ist es heute nicht mehr so. Die Berufswelt wäre ohne Frauen nicht mehr denkbar, auch wenn sie leider noch immer den weitaus grösseren Anteil an der Familien- und Haushaltsarbeit übernehmen (müssen). Und der klassische Militärdienst wird, auch weil sich die Bedrohungslage verändert hat, seit 25 Jahren vom Zivildienst flankiert.

Ein Punkt hat sich gegenüber der eingangs geschilderten Szene freilich nicht verändert: Die Wehrpflicht gilt noch immer nur für Männer, auch wenn seit 2001 – auf freiwilliger Basis – sämtliche militärische Funktionen auch Frauen offenstehen. Dass diese Unterscheidung allein aufgrund biologischer Kriterien eigentlich dem in der Verfassung festgeschriebenen Diskriminierungsverbot widerspricht, hat sogar das Bundesgericht festgestellt.

Gravierender noch: Die Wehrpflicht ist de facto längst keine mehr. Es gibt Kantone, in denen fast ein Drittel aller jungen Männer als untauglich für die Armee (und damit auch für den Zivildienst) eingestuft wird. Vor wenigen Jahren lag die Quote mancherorts gar bei über 50 Prozent, wobei man kaum davon ausgehen kann, dass die Stellungspflichtigen physisch und psychisch derart viel labiler sind als ihre Väter und Grossväter. Es gibt Amateurfussballer, die am Sonntag auf dem Platz stehen und am Montag das erwünschte Untauglichkeits-Attest erhalten – auch dank den Tipps ihrer Kollegen, wie man bei der Aushebung am besten «wegkommt». Kurz: Die Pflicht ist vielerorts zur Farce geworden.

Weiterentwicklung unserer DNA

In diese Bresche stösst ein Vorschlag, der nicht neu ist, nun aber richtig an Fahrt gewinnt: die Einführung eines Bürgerdienstes, auch Service Citoyen genannt. Geleistet würde er von Männern, Frauen und allenfalls auch Ausländern, die in der Schweiz über eine Niederlassungsbewilligung verfügen – also allen, die hier wohnen.

Der Solidaritätsgedanke steht denn auch zentral hinter dem Anliegen. Warum sollten in einer gleichberechtigten Gesellschaft nicht alle, unabhängig von ihrem Geschlecht und vielleicht gar von ihrem Pass, einen Beitrag zum Gemeinwohl leisten? Es wäre eine Weiterentwicklung des Milizsystems, das so zentral zur schweizerischen DNA gehört wie vielleicht nur noch der Föderalismus und die direkte Demokratie.

Nur: Dieser Milizgedanke hat in der letzten Zeit stark gelitten. Dass praktisch jeder junge Mann Verantwortung für die Gesellschaft übernahm – während die Frauen umso mehr «unsichtbare» und darum wenig valorisierte Arbeiten zu Hause ausführten –, prägte die Identität der Schweiz gerade im 20. Jahrhundert stark. Der Staat profitierte vom Know-how, das die Soldaten aus ihrem beruflichen und privaten Umfeld mitbrachten. Diese wiederum erlebten, neben Strapazen, Momente des Zusammenhalts, wie sie in einem sprachlich, kulturell und sozial so heterogenen Land wie der Schweiz von unschätzbarem Wert sind. Nirgends sonst kamen sich der Luzerner Astrophysiker und der Neuenburger Garagist näher als Schulter an Schulter im Truppentransporter.

Sie taten dies aber auch, weil sie kaum eine Alternative hatten. Wenn ein Mann nicht gerade eine körperliche Behinderung hatte oder die Unerschrockenheit, für seine militärfeindliche Überzeugung ins Gefängnis zu gehen, rückte er ein. Dies ist längst nicht mehr so. Wer keine Lust oder Zeit hat, Militärdienst zu leisten – und das sind eine ganze Menge Leute –, muss es eigentlich nicht mehr tun. Er kommt auf dem «blauen Weg» weg und bezahlt dann ein paar Jahre lang Wehrpflichtersatz – oder leistet Zivildienst.

Frauen würden das Problem lösen

Dieser Ersatzdienst ist für viele attraktiver und sinnstiftender, trotz eineinhalbfacher Dauer. Noch kann die Armee, wie der Bundesrat erst vor wenigen Wochen in einem Bericht festgestellt hat, seine Bestände halten, wobei die vielen vorzeitigen Abgänge in Richtung Zivildienst «ein anhaltendes Problem» seien. Das ist jedoch nicht der Fehler des Zivildienstes, dessen Nutzen unbestritten ist. Es hat verstärkt damit zu tun, dass zu viele junge Männer für untauglich erklärt werden – und dass sich die Hälfte der Bevölkerung gar nicht erst am Rekrutierungsprozess beteiligen muss.

Stünde der Armee dank dem Bürgerdienst auch ein Teil der jungen Frauen zur Verfügung, hätte sie die sich abzeichnenden Bestandesprobleme auf einen Schlag gelöst. Denn selbstverständlich müsste es für den Service Citoyen eine Bedingung sein, dass die robusten Elemente des Staatswesens – das Militär, der Zivilschutz, vielleicht auch die Feuerwehr – über genügend Einsatzkräfte verfügen.

Sind die zentralsten Milizaufgaben abgedeckt, stellt sich die Frage: wohin mit den anderen jungen Männern und Frauen? Schaut man sich die Herausforderungen der Zukunft an, würde es dem Dienst im öffentlichen Interesse an Aufgaben nicht mangeln. Ohne abschliessende Beurteilung stechen zwei Themenbereiche dabei besonders heraus: die Überalterung der Gesellschaft und der Umweltschutz.

Fasst man den Begriff der Sicherheit breit, sind die Optionen möglicher Einsatzfelder fast grenzenlos. Die Aktualität liefert dabei beste Anschauungsbeispiele: Die Hochwasserlage dieses Sommers hat uns wieder in Erinnerung gerufen, wie wichtig sowohl präventive wie reaktive Massnahmen sind, um bei den gemäss allen Voraussagen zunehmenden Extremereignissen Schäden an Mensch und Umwelt zu minimieren. Und die Corona-Pandemie zeigt weiterhin auf, dass eine würdevolle Betreuung von Kranken und Alten zu den elementaren Aufträgen eines Staates gehört.

Es sind dies Aufgaben, wie sie teilweise heute schon vom Zivildienst übernommen werden. Dieser müsste entsprechend im neuen Gefäss aufgehen. Klar ist: Wenn (praktisch) alle jungen Bürgerinnen und Bürger einen Dienst an der Gesellschaft leisten, würde er gegenüber dem heutigen, fast 13-monatigen Zivildienst entsprechend kürzer ausfallen. Die Arbeitgeber hätten zwar mehr Ausfälle von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu beklagen, aber sie wären von kürzerer Dauer, als wenn heute Dienst geleistet wird.

Sind Frauen schon genug «gestraft»?

Was bereits heute für den Zivildienst gilt – und nicht in jedem Fall gewährleistet ist –, müsste selbstverständlich auch für den Service Citoyen Bestand haben: Seine Existenz darf nicht dazu führen, dass Arbeitsplätze an ihn ausgelagert werden. Der Dienst muss dort erfolgen, wo sonst die Ressourcen schlicht fehlen würden. Sprich: Der Bürgerdienstler würde nicht die Pflegerin im Altersheim ersetzen, sondern die Lebensqualität der Bewohner steigern, indem er ihnen das Buch vorliest, das sie selbst nicht mehr zu entziffern vermögen.

Gerade in der Altersbetreuung und im Umweltschutz wird heute viel Freiwilligenarbeit geleistet. Wäre diese durch einen Bürgerdienst entwertet oder gar in Gefahr? Die Befürchtung ist in der Tat nicht ganz unbegründet, zumal der Service Citoyen pro Person lediglich ein paar Monate dauern würde. Allerdings ist das Freiwilligen-Engagement auch nicht zum Erliegen gekommen, als der Zivildienst eingeführt wurde. Eine umsichtige Planung wäre vonnöten.

Zurückzuweisen ist hingegen ein anderes Argument, das gegen die Idee eines allgemeinen Bürgerdienstes zuweilen angeführt wird: dass Frauen schlechter bezahlt sind, ohnehin schon den grössten Teil der unbezahlten (Care-)Arbeit übernehmen und also nicht noch zusätzlich «bestraft» werden sollten. Oder anders gesagt: Es sei nichts als gerecht, dass die privilegierten Männer einmal ein paar Monate einrücken müss(t)en.

Doch diese Sichtweise zäumt das Pferd beim Schwanz auf, ähnlich wie die Diskussion ums flächendeckende Rentenalter 65. Es stimmt zwar, dass Frauen in diesen Bereichen schlechtergestellt sind – aus verschiedenen Gründen. Doch sollte man dort ansetzen und nicht, im Sinne eines «Pfands», mit einer Ungerechtigkeit auf eine Ungerechtigkeit antworten. Gefragt sind Arbeitgeber, Politik und die Männer, die gerade bei der Care-Arbeit Aufholpotenzial haben.

Unser Reichtum wird zu wenig genutzt

Wir sind ein Land mit vier Sprachen und mindestens ebenso vielen Kulturen. Dieser unschätzbare Reichtum wird viel zu wenig genutzt. Dass sich Romands und Deutschschweizer zuweilen auf Englisch austauschen, weil sie die Sprache der anderen zu wenig beherrschen, ist nichts anderes als ein Armutszeugnis.

Der Service Citoyen böte hier eine grosse Chance. Warum nicht, wie früher beim klassischen Au-pair-Jahr, den Einsatz in einem anderen Landesteil absolvieren? So würden die jungen Frauen und Männer, neben dem Dienst an der Allgemeinheit und der persönlich bereichernden Erfahrung, auch noch Kompetenzen erwerben, die im späteren Berufsleben von Nutzen sein können.

Kurz: Ein Bürgerdienst für alle wäre nicht nur gerechter als das heutige System, er wäre auch eine Antwort auf verschiedene Herausforderungen unserer Zeit. Die Diskussion darüber poppt seit Jahren immer wieder auf, nun aber wird sie konkret: Eine Initiative für einen Service Citoyen steckt in den Startlöchern. Ab dem 1. August wollen die Urheber mittels Unterschriftsversprechen das Interesse ausloten, bevor die eigentliche Lancierung erfolgen soll.

Man darf sich nichts vormachen. Bis zur Implementierung eines Bürgerdienstes müssten noch verschiedene Parameter austariert werden, insbesondere die allfällige Verpflichtung von Ausländerinnen und Ausländern gehört eingehend diskutiert. Auch die Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht – Stichwort: Zwangsarbeitsverbot – müsste geprüft und sichergestellt sein. Aber genau dafür ist der politische Prozess ja da. Der Grundgedanke jedenfalls, er verdient Unterstützung.

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Martin Weber

Danke für die Überlegungen. Das Thema gehört endlich wieder einmal auf den Tisch. Die verkrustete Sicht: hier Militär, da Herd entspricht schon lange nicht mehr unserer Lebensrealität.

I. W.

Gerade um den Zusammenhalt der Gesellschaft zu stärken scheint es mir wichtig zu sein, dass auch alle überall mitmachen.  Also eher 4 Monate Demenzbetreuung, 4 Monate Katastrophenschutztraining UND 4 Monate Kampftraining an der Waffe, anstatt 12 Monate eines der vorgenannten Themen.  Dabei ist es egal ob der Dienst zugewiesen wird oder sogar frei gewählt werden kann. Gerade das Verlassen der Komfortzone und des bekannten Dunstkreises führt ja schlussendlich zu wichtigen Lebenserfahrungen.  (Die oben genannten 3 Themen sind nur Platzhalter für mögliche Dienste. Es sind die erstbesten Ideen und sicher noch Verbesserungswürdig. )